Kennen Sie das: Sie sitzen mit Freunden abends gemeinsamen beim Essen und Sie unterhalten sich. Das Gespräch könnte beispielsweise wie folgt stattfinden:
Otto erzählt, dass er gerade Schwierigkeiten in der Arbeit hat. Er wollte noch weiter davon erzählen, wie es ihm dabei geht, jedoch kam er gar nicht dazu, da Dieter sofort eine Erklärung für die Situation hat. Er weiß wie es Otto geht, er weiß was dieser machen muss und weiß auch wo das Problem ist – ohne ihm irgendeine Frage zu stellen. Das Thema wechselt und die Unterhaltung geht weiter. Nun wird festgestellt, dass wir (die Gesellschaft) ja alle nur veräppelt werden. Aber auch hierfür gibt es sofort eine Erklärung und das Problem ist gelöst. Luise erzählt dann von ihrer erfolgreich abgeschlossenen Weiterbildung und wie froh sie ist, dass die anstrengende Zeit des Lernens und der Verzicht auf Freizeit vorbei ist. Da mischt sich wiederum Dieter ein und teilt mit, dass dies ja ganz logisch ist und erzählt Luise wie es ihr ging, ihr jetzt geht, gehen wird und was sie zu tun hat mit den neu gewonnenen Kenntnissen. Dieses Thema ist damit beendet und es geht weiter mit dem Thema Reisen. Es wird über die Länder gesprochen, als seien es Ausstellungsräume. „Also Bali ist ja wunderbar aufgeräumt, sehr grün und es ist wirklich erstaunlich, wie nett die Leute dort sind“, „ja vor 20 Jahren war es dort schon anders, dass haben die jetzt gut hinbekommen“ nebenbei wird das Essen kommentiert und mit anderen Restaurants oder auch mit der selbstgekochten Version verglichen. Der Wein wird kommentiert, der Kellner wird kommentiert und die Tischnachbarn werden auch kommentiert. „Ach kuck doch mal, was die trägt und wie der schaut…“, und so geht der Abend weiter. Es wird die Welt erklärt, klar deutlich und eindeutig. Es wird über Nichtanwesende gesprochen, auch die werden erklärt. So erklärt, dass man die Person die man nicht kennt, nach dem Gespräch vermeintlich kennt und sie auch gar nicht mehr kennenlernen braucht, weil man ja schon alles kennt.
Diese Art der Gespräche können anstrengend sein/werden. Es findet ein Austausch an Meinungen und Eindeutigkeiten statt. Das Leben und die Welt werden in gut oder schlecht, Freund oder Feind, krank oder gesund, gewonnen oder verloren, , richtig oder falsch, usw. eingeteilt. Abgerundet wird die Einteilung mit kurzen Sätzen wie: „das ist perfekt“, „das war schon immer so“, „das machen alle“, „das haben wir noch nie anders gemacht“, „da denkst du falsch“, „das ist doch nicht normal“, usw. … so lässt sich auch diese Liste fortsetzten.
Diese Art der Gespräche haben einen statischen Charakter. Fragen werden nur gestellt, um die eigene Meinung bestätigt zu bekommen, jedoch nicht – um zu verstehen was der andere meint.
1949 entdecket die Psychologin Else Frenkel-Brunswik die Ambiguitätstoleranz. In ihren Forschungen zur autoritären Persönlichkeit bemerkte sie eine ethnozentrische Voreingenommenheit bei Kindern und stellte fest, „dass manche Individuen eher dazu befähigt sind, positive und negative Eigenschaften ihrer Eltern zu sehen und Gefühle von Liebe und Hass ein und derselben Person gegenüber ohne allzu große Angst oder Konflikte zu akzeptieren, während andere das Bild der Eltern entweder als ganz und gar gut oder schlecht dramatisierten“ (Wikipedia: Else Frenkel- Brunswik)
Ein Alltagswort ist Ambiguität nicht, laut Duden ist damit die Mehr- und Doppeldeutigkeit gemeint. Die Ambiguitätstoleranz bedeutet, das Aushalten von Mehrdeutigkeit, Vielfalt, Gegensätzen, Paradoxien und Vielschichtigkeit.
Jetzt leben wir in einer Zeit, in der wir unser Weltbild bestätigt haben wollen. Wir lassen (un-)bewusst Informationen zu, die unserem Weltbild entsprechen. Es ist wie in einer Echoblase. Das Bestätigen der eigenen Meinung scheint die Triebkraft der Identifikation zu sein / zu werden. Gespräche, die einen Spielraum an Interpretationen oder Mehrdeutigkeiten haben werden uninteressant und verlieren an Interesse, es wächst der Wunsch nach Eindeutigkeit.
Es wird vermehrt kategorisiert, diagnostiziert, definiert, bewertet, usw. um die Unsicherheit und Vagheit erträglicher zu machen. Vagheit auszuhalten scheint schwieriger geworden zu sein. Meinungen werden heftiger vertreten und verschmelzen mit der Person: Person + Meinung = 1. Das hat zur Folge, dass beim infrage stellen der Meinung oder beim haben einer anderer Meinung oder Ansicht, dies als persönlicher Angriff wahrgenommen wird. Der Umgang miteinander wird kontaktloser und distanzierter. Höflichkeit und Taktgefühl verlieren an Qualität und wirken fast lächerlich.
Das kann sich so zuspitzen, dass Beleidigungen und Beschimpfungen nicht mehr unhöflich sind, sondern als authentisch und wahr gelten. Und authentisch sein hat einen hohen Wert. Ein Blick in die sozialen Medien oder auch in die Zeitung macht dies deutlich. Bezogen auf das oben genannte Gespräch, braucht es nicht zwingend Beleidigungen, dass kann subtiler ablaufen (die Atmosphäre, Blicke, Tonlage, Interpunkton, Tempo) und dennoch deutlich spürbar, dass eine andere Perspektive oder Meinung nicht gewünscht ist. Es ist ein Bewegen zwischen „entweder – oder“ … das macht eng, es baut Druck auf, es ist kontaktlos und die Fassaden werden gezeigt, verteidigt oder poliert.
Einfache Antworten entlasten die Psyche und reduzieren Komplexität. Einfache Antworten lassen Vielfalt kaum zu, somit kann u. a. Radikalität ein gutes Mittel gegen Ambiguität sein. Die Welt ist dann vermeintlich einfacher und vermeintlich klarer, da die „Feindbilder“ definiert sind. Noch kritischer wird es, wenn etwas „Fremdes“ kommt. Der Soziologe Zygmunt Baumann sagte dazu, dass der Fremde problematischer als der Feind ist. Der Feind ist eindeutig – der Fremde ist weder Freund noch Feind, sondern schwer zuzuordnen. Somit ist der Fremde immer etwas Ambiges.
Ambiguitätstoleranz bedeutet ein „sowohl als auch“. Das „wandern“ zwischen richtig und falsch oder gut und schlecht – also ein aushalten können von beiden, weil beides da ist, ist die Herausforderung. Ein Aushalten können von dem, was dazwischen liegt. Es ist sowohl richtig als auch falsch und dazwischen öffnen sich Räume, die bei „entweder – oder“ nicht da ist. Diesen Spannungsbogen aushalten und sich darin zu bewegen ist die Kunst. Sicher leben mit der Vagheit.
Die Welt ist komplexer geworden, was den Alltag und das Arbeitsleben nicht unbedingt leichter macht. Und gleichzeitig sind wir davon abhängig, dass es unterschiedliche Meinungen und Interessen gibt und unterschiedliche Kompromisse getroffen werden. In unserer Gesellschaft, in der Familie, in der Firma, im Verein, im Freundeskreis, usw.
Was braucht es, um mit Ambiguität umgehen zu können? Es sind „altmodische“ Eigenschaften wie: Höflichkeit, Takt, Demut, Interesse, Neugier, ein sich zurücknehmen können, ein sich einlassen können, zuhören, differenzieren und nuancieren. Zuhören was der andere sagt und damit meint, ohne sofort mit der eigenen Geschichte zu erwidern oder die Lösung zu präsentieren.
Es ist kontingent – es könnte auch ganz anders sein. Sich darin üben, widersprüchliche Gefühle in sich auszuhalten und der unberechenbaren Zukunft und der Unsicherheit des Lebens mit einer inneren Toleranz begegnen. Sicherer werden im Umgang mit Unsicherheit.
Das sind Voraussetzungen, die es lebendig und bunt werden lassen, Räume öffnet und neue Möglichkeiten bereithält.
Der inneren Unsicherheit zu begegnen ist natürlich nicht so prickelnd. Daher lade ich Sie ein, sich zu beobachten, wie viel Höflichkeit, Takt und Neugier sie in Begegnungen leben und aushalten können.
Herzlichst
Ihre Kerstin Pape